Heilpädagogik
Was ist das?

Ich sitze an einem Tisch,
der ist zwar nicht grün,
aber es ist ein Tisch.


Im Gespräch mit Berufskollegen und mit Praktikanten, die Heilpädagogik studieren, taucht immer wieder die Frage auf, was Heilpädagogik sei. Aber es machen sich nicht nur „Insider“ Gedanken über den Begriff Heilpädagogik, wir werden auch „von außen“ befragt, welchen Beruf wir ausüben. Die Verwechslung mit Heilpraktikern ist uns geläufig. Mir scheint allerdings, dass kaum ein anderer Sozial-Beruf derart unter Erklärungsdruck steht wie der des Heilpädagogen.

In diesem Aufsatz möchte ich die Herausforderung annehmen und schlage eine Doppelstrategie vor. Die meisten Menschen, die wissen wollen, was Heilpädagogik ist, verlangen eine knappe, anwendungsbezogene Erklärung. Ihnen antworte ich etwa so: Heilpädagogik ist Erziehung in Problembereichen, wie z.B. bei Verhaltensauffälligkeiten oder Behinderungen. Meist folgt der von mir erwartete Aha-Effekt. Den anspruchsvolleren Denkern und Praktikern reicht diese Definition zum Glück nicht aus, sie verlangen eine Fülle mehr Wörter . . . Diesem ehrbaren Ansinnen dient im Folgenden mein Versuch, den zweiten Teil meiner Doppelstrategie zu erfüllen.

Vorab drei Bemerkungen:

1.    Meine Grundsatzüberlegungen beziehen sich auf das Gebiet der Heilpädagogik. Sie sind also unabhängig von einem bestimmten Praxisort.

2.    Ich habe mich wegen meines wissenschaftlichen Anspruchs um eine verständliche Sprache bemüht.

3.    Ich habe mich (auch) in diesem Aufsatz der pädagogischen Verpflichtung gestellt, persönliche Bekenntnisse zu verhehlen.

Auf meine an mich selbst gerichtete Frage: Was verstehst Du eigentlich unter Heilpädagogik, fiel mir zunächst eine Antwort ein, die AUGUSTINUS auf die Frage, was ist Zeit, gab: „Solang mich niemand danach fragt, ist mir’s, als wüßt ich’s; doch fragt man mich und soll ich’s erklären, so weiß ich’s nicht“ (1). Dann dachte ich an den „Kleinen Prinzen“; „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ (2). Auch die Heilpädagogik ist wohl kaum bis in ihre letzten Erkenntnisadern zu beschreiben. Heilpädagogik ist ja gerade da anzutreffen, wo wir Menschen vor Rätseln stehen: an den Grenzen unserer Kenntnisse, unserer Einsichtfähigkeit und unserer Einflussmöglichkeiten.

Die Menschen, die uns täglich be-sorgen, konfrontieren uns mit der Unvollkommenheit unserer menschlichen Existenz. Die Erkenntnis unseres paradieslosen Daseins kann in jedem von uns eine Art narzisstische Kränkung hervorrufen. Die Folge kann sein: Verharmlosung („es sind ja gar nicht so viele, die leiden müssen“), Verdrängung („es gibt kein Leid“) bis hin zu Euthanasiegedanken („Lebensunwerte sollten vernichtet werden“). Bei SÖLLE lesen wir, daß unsere eigene Selbsterfahrung uns zwingt, „die Abwesenheit des Unglücks anzuerkennen“ (3).

In unserer heilpädagogischen Arbeit werden wir unausweichlich gefordert, uns den letzten aber immer aktuellen Fragen nach Sinn und Bedeutung menschlicher Existenz zu stellen. Dieses berufliche Ausgerichtet-sein auf Grenzerfahrungen ist in doppelter Hinsicht brisant, einmal geht es um die eigene Person (des Heilpädagogen): worin gründet sich mein „innerer Halt“ (MOOR) in Anbetracht von Säkularisierung, Atheismus und Existentialismus? Und zum anderen: wie erklären wir uns die Zunahme von „leidvollen Zuständen“ wie z.B. AIDS, Familienauflösung, Behinderung oder ökologischen Katastrophen?

Heilpädagogik hat zum Thema: Umgang mit Menschen, die von Unheil betroffen sind. Bevor aber dieser Satz einer verdienstvollen Untersuchung zugeführt wird, möchte ich die Frage aufwerfen, ob Heilpädagogik denn bei „Unheil“ beginne und bei „Heil“ aufhöre. Nun ist es ja kein Geheimnis, dass bereits die Erfinder des Wortes „Heilpädagogik“ (GEORGENS und DEINHARDT – übrigens zwei Schulmeister – 1861) und danach fast ausnahmslos alle Exponenten dieses Faches mit dem Begriff Heilpädagogik haderten. Gleichsam halten viele  - so auch ich – an ihm fest wie an einer heiligen Kuh. Für mich ist klar, daß Pädagogik nicht auf Heilung im medizinischen Sinne abzielen kann. Ebenso wenig kann durch Pädagogik „Heil“ in einem theologischen Verständnis (vgl. Linus BOPP) erworben werden. Und obwohl MOOR sagt „Heilpädagogik ist Pädagogik und nicht anderes“ (4), könnte und sollte nach meiner Auffassung nicht das Präfix „Heil“ verzichtet werden. Allerdings ist es für mich spannend, das Wörtchen „Heil“ analog zu „Unheil“ (unserer Ausgangsbasis) mit pädagogischen Gedankengut zu füllen. „Heil ist, so gesehen, nicht mit Gesundheit, Vollkommenheit, Leidlosigkeit, Erlösung usw. identisch. Bevor ich aber mit einer pädagogischen „Besetzung“ von „Heil“ aufwarte, möchte ich mich zunächst mit dem Leidensbegriff auseinandersetzen. Leiden in all seinen Dimensionen zu erörtern, würde den hier von mir vorgesehenen Rahmen sprengen (es empfiehlt sich, die in Anm. 3 angegebene Lektüre zu studieren). Ich möchte hier den Begriff Leiden synonym gebrauchen zu Unglück und Unheil. Von Leiden, Unglück oder Unheil sprechen wir, wenn es als solches erlebt wird und nach einem Ausdruck verlangt. In der Heilpädagogik geht es in erster Linie um ein individuell erlebtes Leiden (im Unterschied zum kollektiven Leiden). Das von einem Menschen (irgendwie) zum Ausdruck gebrachte Leiden steht zunächst ungeachtet seiner Verursachung im Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Es hat im subjektiven Erleben eines Menschen für ihn eine eigene, zentrale und existentielle Bedeutung. Jene Attribute zum Thema einer heilpädagogischen Begegnung. Jene Attribute kennzeichnen die konkreten und alltäglichen Erschwernisse und Beeinträchtigungen eines leidenden Menschen. Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit, Abgelehnt-Werden, Außenseiter-Sein, Hilflosigkeit, Unzulänglichkeiten oder Unvermögen usw. sind Begriffe, die ein Leidens- oder Unglücks-Erleben verdeutlichen können. Die betroffenen Menschen, die sich selber diese Attribute zuschreiben, haben eines gemeinsam: sie erwarten etwas. Die Erwartung mag diffus (unkonkret) sein, sehr gering ausgeprägt oder kaum formulierbar sein, aber sie erweist sich beinahe als Vorstufe der Hoffnung in Form einer Hinwendung etwa zu einer fachlichen Autorität. Diese kann z.B. ein Pfarrer sein, ein Arzt, ein Sozialarbeiter oder ein Psychotherapeut. In der Regel erwartet ein leidender Mensch die Beseitigung bzw. Aufhebung seines Unglücks. Er sucht Hilfe im Bereich des Machbaren, des Funktionalen. Nach einer Zeit erweist es sich, ob diese Hilfen den erwarteten Effekt haben.

Die Heilpädagogik erklärt ihre Zuständigkeit in erster Linie dort, wo der Bereich des Machbaren, des Therapeutischen ausgeschöpft ist. Dort, wo trotz der zur Verfügung stehenden Mittel und Methoden die leidverursachenden Faktoren bleiben, setzt heilpädagogisches Denken und Handeln ein.

Um diesen Zuständigkeitsbereich der Heilpädagogik zu kennzeichnen, bedarf es m.E. der Einführung eines neuen Begriffs. Ich schlage hier den Begriff Postvention vor, weil er verdeutlicht, dass Heilpädagogik primär weder Prä-vention noch Inter-vention betreibt. Aufgrund der Geschichte der Heilpädagogik hat sich ihre Eigenständigkeit immer da erwiesen, „wo alles zu spät ist“, „das Kind in den Brunnen gefallen ist“, „niemand mehr für das Kind . . . zuständig ist“ usf. Jede irreversible Katastrophe (z.B. ein Unfall, eine Elterntrennung, die Geburt eines behinderten Kindes, eine HIV-Infizierung usw.) kann eine heilpädagogische Postvention erfordern.

Wegen der Unabwendbarkeit eines einmal eingetretenen Unglücks, sieht die Heilpädagogik ihre Aufgabe darin, auf die weiter bestehenden Erwartungen Einfluss zu nehmen. An dieser Stelle beginnt die Frage nach den heilpädagogischen Arbeitsweisen, auf die ich später eingehe. Heilpädagogik setzt dann ein, wenn ein irreversibles Unglück eingetreten ist und seine Folgen nicht oder nicht allein von anderen Fachleuten aufzuheben sind. Die Konsequenzen, die sich aus diesem Zusammenhang für die Heilpädagogik ergeben, laufen in der Zielfrage („Heil“) zusammen: welche Absicht (final) verfolgt die Heilpädagogik? Heilpädagogik beschäftigt sich (in Theorie mit) und Heilpädagogen sorgen sich (in der Praxis) um das Wohlbefinden eines an einem irreversiblen Zustand leidenden Menschen. Das Wohlbefinden ist synonym zu „Heil“ aufzufassen und in diesem Sinne als pädagogisch (besetzt zu verstehen. Nach meiner Überzeugung ist ein Wohlbefinden trotz eines irreversiblen Zustandes möglich und erstrebens-wert.

Eine heilpädagogische Begegnung ist immer gekennzeichnet von der Potentialität eines Unglücks. Dasselbe Leid, das unserem Gegenüber bereits widerfahren ist, widerfährt uns möglicherweise selbst. Weil wir (Heilpädagogen) nicht vor Unheil gefeit sind, begegnen wir dem Leidenden in zutiefst existentieller Weise: als Gleicher. In dem von Martin BUBER so übersetzten Liebesgebot „Liebe Deinen Nächsten, er ist wie Du“, kommt die unmittelbare Betroffenheit zum Ausdruck, in der sich zwei Menschen begegnen. Solange mein Gegenüber nicht glücklich ist, kann auch ich nicht glücklich sein. An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen Schmerz und Glück deutlich. Ein Schmerz ist „unteilbar“ (z.B. Zahnschmerzen): Glück hingegen ereignet sich nur in Beziehung, im Phänomen des Teilens. „Heil“ bzw. Wohlbefinden werden nicht mehr als „Punkt-Wert“ angesehen, als ein ein-für-allemal erreichter oder erreichbarer Besitz (wie wenn z.B. ein gebrochener Arm wieder zusammen gewachsen ist), sondern als ein den ganzen Lebensweg mehr oder weniger begleitendes Gut.

Auch den von Helmut GOLLWITZER interpretierten LUTHER - Ausspruch „Was nicht im Dienste steht, steht im Raub“, möchte ich in heilpädagogisches Gedankengut aufnehmen. Die uns (z.B. Heilpädagogen; Eltern usw.) gegebenen „Privilegien“ (GOLLWITZER) sind nicht Zeit unseres Lebens gesichert. Und wenn wir sie nicht in den Dienst stellen (denen, die unsere Privilegien nicht haben), so berauben wir jene, weil wir sie nicht Anteil nehmen lassen . . . Auswirkungen von Deprivation (=„Beraubung“) sind uns ja geläufig.

Eine bislang ungeklärte Frage ist, wie wir jene Menschen bezeichnen, die uns als Heilpädagogen beschäftigen. Das Wort „Klient“ ist von der Psychologie aus der Rechtssprache genommen worden; es wird ebenso wie das Wort „Ratsuchender“ vorwiegend in der (Erziehungs-)Beratung gebraucht. Von HAGEL stammt die Bezeichnung „der/die heilpädagogische Bedürftige“ (5), KLENNER benutzte das lateinische „educandus plus“ (6) für denjenigen, der ein „Mehr an Erziehung“ (im qualitativen Sinne) braucht. Vielleicht fehlt für unseren Sprachgebrauch noch ein geläufiger Begriff, der weder etikettiert (vgl. „labeling approach“) noch so gestaltet ist, dass sich ein Betroffener darin nicht wiederfinden könnte. Nach meiner Auffassung brauchte es kein neues Substantiv zu geben. Es würde ausreichen, wenn wir uns bemühen, treffende Adjektive zu dem Wort „Mensch“ zu finden. Eine solche sprachliche Bemühung ist mir wichtig, weil sie klarstellen hilft, daß ein Mensch zwar beispielsweise eine Behinderung haben kann, diese aber nicht den ganzen Menschen ausmacht („der Behinderte“,„der Spasti“ usw.). Die sprachliche Akzentuierung eines Aspektes eröffnet den (geistigen) Blick für andere Aspekte, die zum Menschen gehören und dem sog. Normalbereich zuzuordnen wären.

Dennoch bleibt für uns das heilpädagogisch zentrale Thema des Menschenbildes. Spätestens bei dieser Frage zeigt sich, dass die Heilpädagogik nicht identisch sein kann mit dem Heilpädagogen/ der Heilpädagogin. In der heilpädagogischen Theoriebildung (das betrifft in gleicher Weise die Erziehungswissenschaft) kann nur thematisiert werden, was von jedem Heilpädagogen in seiner ihm eigenen Weise übernommen und verinnerlicht wird, um es schließlich wieder anders in heilpädagogischer Arbeit umzusetzen. Theorie, Transformation (in einer bestimmten Person) und Anwendung sind drei „eigendynamische“ Bereiche. Es gilt also nicht etwa, ein Menschenbild „zu erlernen“, sondern sich das Thema zueigen zu machen. Für mich ist der Mensch, dem Heilpädagogik zugute kommen soll, ein „Primus inter pares“ (= der Erste unter den Gleichen). Ihm gebührt eine liebevolle Zuwendung.

Hier kommen wir in einen Bereich, der sich wissenschaftlichen Ansprüchen (wie etwa Objektivierung, Operationalisierung) entzieht, aber in unserem Lebensvollzug unentbehrlich ist. „Liebe“ kann man nicht studieren! Ausstrahlung („Charisma“), Ermutigung, Humor, Hoffnung wecken, Sinn suchen, Trösten usw. sind in der heilpädagogischen Praxis immens wichtige „dinge“, aber man kann sie nicht so lernen wie eine physikalische Formel. Man kann nur immer wieder „in medias res“ (= mitten in die Dinge hinein) gehen, um seine Persönlichkeit übend auszuprägen. Analog zu diesen Gedanken können wie „das Gegebene“ (MOOR, 7) noch einigermaßen objektivieren. Das „Aufgegebene“ und „Verheißene“ (7) überschreitet jedoch unsere sprachliche und weltanschauliche Übereinstimmungsmöglichkeit. Und doch gehört die Thematisierung dieser Begriffe in die angewandte Heilpädagogik. Wir denken und handeln als Pädagogen. Das bedeutet, dass unsere eigenen Überzeugungen, Haltungen und Werte mit in das „erzieherische Verhältnis“ (KOBI) einzubringen sind. Unsere Person/Persönlichkeit ist unser Medium. Dies Medium ist keine von unserer Person abgetrennte Methode. Diese Frage möchte ich später im Zusammenhang mit heilpädagogischen Arbeitsweisen wieder aufnehmen.

Der modus operandi, d.h. die Art und Weise unseres Handelns hatte in allen Zeiten als Thema des Vorbilds eine pädagogische Bedeutung. Wie stehen wir heute zu Fragen des Besitzes (Teilens), der Gemeinschaftspflege, der „ästhetischen Erziehung“, der Ernährungsweise, des Umgangs mit Medien oder des Umgangs miteinander? Welche Haltung nehmen wir ein zu Tugenden wie Redlichkeit, Geduld, Verbundenheit usw.? Welches ethische Verständnis leitet unser Handeln? Beziehen sich unsere Denkmodelle auf ein „Hier und Jetzt“, und zwar in einem existentialistisch – immanenten Verständnis oder beziehen wir transzendente Überlegungen in unsere Lebenswelt ein?

Diese normativ ausgerichteten Fragen sind im Lauf der Geschichte unterschiedlich beantwortet worden, entweder kollektiv oder individuell (vgl. Kupffer, 8). In unserem heutigen pluralistischen Wertesystem ist jeder für sich gefordert, einen für sich verbindlichen Standpunkt zu finden. Schließlich „ereignen“ sich unsere Antworten in unserer Alltagswelt zu allen Anlässen, in denen wir Ver-antwortung tragen. Ein eher funktionalistisch ausgerichtetes Menschenbild geht von der „prinzipiellen Machbarkeit“ aus. Es heißt: „Hier muss etwas geschehen, etwas gemacht werden!“ Oder: „Das Kind muss gefördert werden, es braucht Heilpädagogische Übungsbehandlung!“ Forschungsergebnisse über psychotherapeutische Effekte (FIEDER, 9) veranlassen auch uns zur Bescheidenheit in der Vorstellung, wir können E-normes bewerkstelligen.

Nach heilpädagogischer Vorstellung ist dort viel zu machen, wo nichts oder wenig zu machen ist. Dieses Wortspiel soll die unterschiedlichen Ansätze klarstellen: wenn im funktionalen Bereich auch wenig zu machen ist, muss umso mehr im Bereich der Einstellungen und Handlungen „etwas gemacht“ werden. Beide Ansätzen gemein ist ein pragmatisches Vorgehen.

Das Thema des Menschenbildes (Haltungen) ist naturgemäß vernetzt mit der Frage der heilpädagogischen Arbeitsweisen bzw. Methoden (Handlungen). Die Trennung der Begriffe Methode und Arbeitsweise hat HAGEL (10) am Beispiel der Heilpädagogik dargestellt. Es würde sich ja um ein völlig reduziertes Berufsbild handeln, würden wir annehmen, Heilpädagogen werden ausschließlich Methoden an (z.B. die Heilpädagogische Übungsbehandlung). Nach HAGEL (10) kann es gar keine „spezifisch-pädagogscihe Methode“ geben. Wir unterscheiden vielmehr (wissenschaftstheoretisch) zwischen Methoden (z.B. eine Heilpäd. Übungs­behandlung) und Arbeitsweisen, die einem „erzieherischen Handeln“ entsprechen. Während Methoden zu erlernen sind, sind Arbeitsweisen zu erwerben. Man kann z.B. nicht lernen, beliebt zu sein oder sich verantwortlich zu fühlen, oder jemanden zu verstehen oder humorvoll zu sein. Aber genau diese originären, nicht erlernbaren Qualitäten bestimmen unser erzieherisches Handeln, bestimmen, ob wir als Vorbild etwas hergeben, ob wir be-ansprucht bzw. zu Rate gezogen werden, ob wir günstigen Einfluss nehmen usf. Ein Heilpädagoge, der um einen „guten modus operandi“ bemüht ist, sollte sich mit sich beschäftigen. Die Selbsterkenntnis bzw. die rechte Selbsteinschätzung ist eine wesentlich Voraussetzung, um in einer „heilpädagogischen Begegnung“ von sich absehen zu können. Über diesen Weg ereignet sich dann Selbsterfahrung. Die Frage „wer bin ich (Mensch)“ ist wesentlicher als die Frage „wir wirke ich auf andere“.

In den Bereichen der Arbeitsweisen gehört auch die Frage, ob ich bereit bin zur Disponibilität (BASAGLIA): bin ich als Person meinem Gegenüber verfügbar, bin ich bereit, etwas für jemanden zu erledigen, an seiner Stelle, um ihn „einmal“ zu ent-lasten?

Oder: Gebe ich einem anderen Menschen Gelegenheit, mein Handeln zu be­obachten, damit er mich imitieren kann? (Anm.: Imitation ist übrigens nach METZGER, 11, eine Voraussetzung für „schöpferische Freiheit“) Bindung und Ablösung, Annahme und Ablehnung bedingen einander und bestimmen erzieherische Wirklichkeit. In dieser Hinsicht sind Menschen auch nicht austauschbar, weil sie eine einzigartige Originalität besitzen.

Zu den heilpädagogischen Arbeitsweisen zähle ich auch eine personzentrierte Haltung. Allerdings sollten (wir Pädagogen) uns freundschaftlich abgrenzen von der „Klienten-zentrierten Gesprächspsychotherapie“ (ROGERS u.a.). Das Verstehen betrachten wir als Grundkategorie der Hermeneutik. Dort ist es spätestens seit DILTHEY mit in die „erzieherischen Grunderscheinungen“ einbezogen worden. Sie erfordert sowohl eine Interpretation (des Anderen; der Welt usf.) als auch eine „kritische Distanz“. Diese ist wiederum geistig verwandt mit der Dialektik. Während in der Gesprächspsychotherapie dem Klienten eine „vorurteilsfreie und uneingeschränkte Aufmerksamkeit“ gebührt, handelt es sich bei der Dialektik um einen „lebendigen Dialog, dessen Ziel in der Aufdeckung der Wahrheit durch das ausgleichende Gegeneinander der Meinungen liegt“ (12). In der Gesprächspsychotherapie geht es ferner um das „Verbalisieren emotionaler Erlebnisinhalte“ (13). Ein „heilpädagogischer Dialog“ bezieht darüber hinaus inhaltliche Themen (Meinungen, Wertungen, Standpunkte etc.) mit ein. Unter einer person-zentrierten Haltung verstehe ich eine vorrangige Annahme des Anderen (im Sinne des „primus inter pares“). Dieser Andere hat aber auch ein Recht, an meiner Person teil-zuhaben. Man könnte sich das Gemeinte in einem Bild vorstellen, in dem die Person im Mittelpunkte (Zentrum) steht, und ich (Heilpädagoge) am Rande, an der Peripherie – uns aber gegenüber stehend.

Dieses „dialogische setting“ (man verzeihe mir diese postmoderne Kreation) nutzen wir zum Thematisieren. Hierein gehören klassische Methoden wie z.B. Anamnese, Exploration, Existenzanalyse (vgl. Logotherapie). Diese Methoden wenden wir unter heilpädagogischen Gesichtspunkten an. Uns interessieren z.B. nicht nur Defekte, Krankheiten oder Auffälligkeiten sondern auch die „innere Befindlichkeit“ (KLENNER) eines Menschen, das woran er sich erfreut und wonach er sich sehnt usf.

Später erfolgt die Problematisierung: welche Hindernisse bestehen, was ist noch nicht versucht worden, auf wen oder was sollten wir Einfluss nehmen usw. Das Problem des Anderen lagern wir –metaphorisch- aus ihm heraus, so dass es nun vor uns beiden liegt und gemeinsam mit den uns jeweils gegebenen und unterschiedlichen (!) Mitteln 8und Möglichkeiten über-wunden werden soll. Durch diesen Kunstgriff gelingt manchmal jene Ab-lösung aus der Problem-verhaftung, die aufgrund der neu gewonnen Distanzierung völlig ungeahnte Wege erschließt.

Insbesondere bei den uns bekannten irreversiblen Problemen bezieht sich unsere Einflussnahme auf eine Einstellungsänderung. Annehmen und Aushalten des generell Unabänderlichen werden hier zur gemeinsamen Aufgabe. Dies läßt sich leicht schreiben, wer aber heilpädagogisch gefordert ist, weiß, wie mühsam dieses Aushalten ist.

Obwohl uns diagnostisch und hermeneutisch auch die Vergangenheit unseres Gegenüber zu interessieren hat, sollten wir als Heilpädagogen prospektiv ausgerichtet sein. Die Entwicklung einer Zukunftsperspektive ist gerade für hoffnungslose Menschen lebenswichtig. Das Thema Zeit gehört zentral zur Heilpädagogik. Nach welchen zeitlichen Vorgaben erwarten wir eine beobachtbare Veränderung? Wie schnell soll aus dem auffälligen, ein angepasstes Kind werden? (Anm.: In diesem Zusammenhang interessiert uns nicht, ob und inwiefern sich ein Kind überhaupt anpassen soll. Hier liegt der Akzent auf der Geschwindigkeit von Erwartungseffekten.) Es ist eine Überlegung wert, wer alles von einem anderen in welcher Zeit etwas erwartet! Wie viele Kinder „müssen“ gefördert werden, damit ihr „Entwicklungsrückstand“ möglichst schnell aufgeholt wird. Als ob wir Entwicklung oder Wachstum beliebig beschleunigen könnten (z.B. eine Pubertätskrise).

Zu den im Bereich der Heilpädagogik anzuwenden Methoden fällt mir zunächst die Heilpädagogische Übungsbehandlung (KLENNER, a.a.O.) ein. Ich habe allerdings den Verdacht, dass sie von vielen Heilpädagogen kaum in ihrer ganzen Dimension erkannt ist.

Das Wort Übungs-behandlung ist eigentlich unzutreffend. Es handelt sich eigentlich um ein komplexes System, in dem auch Übungen enthalten sein können. „Behandeln“ lässt einerseits eine Affinität zur Medizin vermuten und andererseits kann das Wort so verstanden werden, als handele der Heilpädagoge am Kind. Schließlich kann mit heilpädagogischen Übungen nichts behandelt werden; statt dessen sollen „Fertigkeiten ausgebildet“ werden.

Studenten der Heilpädagogik, die bei uns ihr Blockpraktikum durchführen, sagen manchmal, sie wollen eine Heilpädagogische Übungsbehandlung sehen. Dabei ist nach unserem Verständnis die Heilpädagogische Übungsbehandlung in dem täglichen Handlungsbedarf integriert. Es gibt auch kein besonderes Übungsmaterial, das etwa nur für eine Heilpädagogische Übungsbehandlung benutzt würde.

Dennoch gehört die Heilpädagogische Übungsbehandlung, wie sie KLENNER (a.a.O.) dargestellt hat, konstitutiv zur Heilpädagogik. Sie öffnet unseren Blick für eine Art Mikrofeldanalyse. Hier können wir sehr differenziert erkennen, welche Voraussetzungen von einem Menschen verlangt werden, um einer bestimmten Erwartung zu genügen. Erst eine solche Analyse ermöglicht eine Erwartungsänderung, die ihrerseits – dem Prinzip der kleinsten Schritte folgend – neue Handlungsansätze eröffnet. Die so verstandene methodische Variationsmöglichkeit lässt sich übertragen auf sämtliche „Phasen“ der Heilpädagogischen Übungsbehandlung. In diesem Kontext liefert das Modell der Heilpädagogischen Übungsbehandlung indirekt und unbeabsichtigt den Beweis für die Unmöglichkeit, psychotherapeutische Verfahren uneingeschränkt der Heilpädagogik anzuwenden. Jedes psychotherapeutische Verfahren verlangt nämlich vom Klienten eine Fülle von Voraussetzungen, die ein „Klient der Heilpädagogik“ meist nicht mitbringt. Zu diesen Voraussetzungen zählen z.B. Leidensdruck, Krankheitseinsicht, Verbalisierungs- und Reflexionsfähigkeit, Änderungswille, klare Indikation, stringentes methodisches Vorgehen (eingeschränkte Variation), Aussicht auf Erfolg (nachprüfbarer Effekt; vgl. 9) usf.

Nicht selten werden Heilpädagogen Menschen anvertraut, die bereits eine oder mehrere Therapien hinter sich haben und dennoch bzw. immer noch leiden. Oder es kommen Menschen, die gleich mehrere Probleme mitbringen (z.B. eine Lernbehinderung; Räumungsklage; Ehetrennung). Bei Problemkomplexen müssen verschiedene „Lösungsstrategien“ gesucht werden. Hier wären z.B. auf eine bestimmte Methode festgelegte (Psycho-)Therapeuten überfordert.

Zu den in der Heilpädagogik anzuwendenden Methoden zähle ich auch das, was ich Kontrastarrangement nennen möchte. Darunter verstehe ich jede von uns arrangierte Situation, in der unser Gegenüber eine Kontrasterfahrung machen kann. Bei dieser Überlegung gehe ich davon aus, dass ein Mensch nur das suchen kann bzw. haben will, was er nicht hat oder nicht ist. Beispiele: Ein Außenseiter möchte (z.B.) in einer Schulklasse angenommen sein; ein Mensch mit einem Sprachfehler möchte geduldige Zuhörer haben; ein „Prügelknabe“ möchte liebevolle Zuwendung erfahren; ein Unverstandener möchte verstanden werden usw.

Die Alltagserfahrung lehrt uns, dass gerade „Prügelknaben“ Prügel „anziehen“, dass Außenseiter durch ihr Verhalten noch ihre Position festigen usw. Hier stellt sich uns die Frage, inwiefern wir mit unserer Person (als „Medium“) Kontrast sein können.

Allen methodischen Fragen ist gemeinsam, dass an ihnen der Geruch von Labor bzw. künstlicher Situation anhaften kann. Ich meine aber, dass ein Kontrasterlebnis zunächst im „Labor“ (oder im Schonraum beim Heilpädagogen) – eine Selbsterfahrung besonderer Qualität sein kann. Oft ist dies die erste und bislang einzige Erfahrung eines Menschen, vorbehaltlos angenommen zu sein. Zu irgend einem Zeitpunkt mag diese ermutigende „Laborerfahrung“ Einzug nehmen in die Alltagswelt (Transfer).

Das Thema der Voraussetzungen soll in diesem Zusammenhang noch einmal zur Sprache kommen. Voraussetzungen sind jene Bedingungen, die wir aufgrund einer Begegnung mit einem leidenden Menschen mit zu beeinflussen suchen. Die ganze Kraft unserer methodischen Überlegungen fließt in diesen Bereich: welche Voraussetzungen sind zu schaffen, damit der Andere seinen Vorstellungen entsprechend glücklich werden kann?

Mein Aufsatzthema hieß „Heilpädagogik – was ist das?“ Ich habe versucht, darauf Antworten zu geben, die für mich fachlich – essentielle Bedeutung haben. Mir ist klar, dass Manches ausgespart wurde uns Anderes schon längst zum „Standardwissen“ der Heilpädagogik zählt. Dennoch wünsche ich mir eine rege Diskussion!  

In: BHP - Informationen: Heilpädagogik - was ist das? 3/88


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