Möglichkeiten der Zusammenarbeit 
von Heilpädagogen und Ärzten?


"In seinem 'Symposion' lässt Platon einen Wettstreit unter den Teilnehmern eines Gastgelages stattfinden. Sie sollen eine Lobrede auf die Liebe halten. Am bekanntesten ist die Rede des Aristophanes geworden, der einen Mythos erzählt. Einst seien die Menschen noch ganz gewesen, kreisförmig und von großer Kraft. Sie hätten sich gegen Zeus verschworen, der sie zur Strafe entzweigeschnitten hätte. ...'Jeder von uns ist also Bruchstück eines Menschen', heißt es da. ‚Da wir zerschnitten sind wie die Flundern, aus einem zwei, sucht denn auch jeder immer fortwährend sein anderes Stück'." (1)


Meine Damen und Herren!

Die Einheit von Körper, Seele, Geist ist seit Jahrhunderten im Bewusstsein der Menschen. Auch hat es immer schon Erziehung gegeben und Heilungsversuche. Aber im Lauf der Geschichte haben sich immer mehr Professionen profiliert, durch immer mehr Differenzierung, Spezialisierung und Separierung ...

Heute scheint es unübersichtlich viele Spezialisten zu geben. Wir könnten uns einmal ganz naiv fragen, was macht eigentlich ein Arzt, was ein Heilpädagoge? Kurz: es gibt weder den Arzt, noch den Heilpädagogen, genauso wenig wie es den Kranken gibt und den ‚heilpädagogisch Bedürftigen‘. Patient und optimaler Helfer finden oft nicht automatisch bzw. selbstverständlich zueinander, sondern sie stehen vor einer Art Wegesystem, das gar nicht so einfach zu durchschauen ist. Ein Mensch mit einem bestimmten Problem wendet sich an jenen Helfer, von dem er Hilfe erwartet. Ein Stotterer zum Beispiel wendet sich nur dann an einen Logopäden, wenn er ein gewisses Vorverständnis von dem Beruf eines Logopäden hat. Aber wer ist schon so treffsicher, so „indikationskompetent“? Wer weiß schon, wer und was für ihn am besten ist? Angesichts der vielen Spezialisten fällt dem Laien eine sichere Wahl schwer. Aber auch der Fachmann hat zunehmende Schwierigkeiten, den psychosozialen Markt zu kennen. Neben den vielen Vorteilen der Spezialisierung, gibt es auch das zunehmende Problem einer sachgerechten Orientierung, d.h. einer optimalen Zuordnung von Problem und Helfer.

Ein wesentliches Motiv für die Zusammenarbeit zwischen Arzt, Heilpädagoge und anderen ist die Einsicht in die eigene fachliche Begrenzung und ein Grundverständnis vom Kompetenzbereich der jeweils anderen Profession. Je größer mein Spezialwissen ist, desto eher bin ich auf Kooperation angewiesen.

Schließlich hat das Wohlbefinden eines Menschen so viele inzwischen erkannte Facetten, dass es tatsächlich mehrerer Professionen bedarf, um für dieses Wohlsein zu sorgen. Und endlich wollen wir als Profis ja auch gebraucht werden. Je größer unsere mikroanalytische Erkenntnis ist, desto mehr konstituieren wir mancherlei Störungen, d.h. wir produzieren möglicherweise auch so etwas wie eine Reparaturbedürftigkeit. Gleichzeitig wird unser Toleranzbereich immer kleiner. Der Mensch ist nicht einfach gut, so wie er ist, sondern er muß gefördert, geheilt, therapiert, entwickelt werden, er muß sich verändern, immer wachsen, gesund werden usw. Der menschlichen Erkenntnis seiner Unvollkommenheit steht ein Heer von Machern gegenüber, die pflichtbeflissen aus einer verhaltensauffälligen Mücke einen tadellosen Elefanten machen wollen.

In meiner Arbeit bin ich zunächst auf der Suche nach einem guten Maß zwischen den Möglichkeiten des Dramatisierens und des Bagatellisierens. Jeder Mensch ist zunächst selbst verantwortlich für seine Gesundheit und den Bereich der Erziehung seiner Kinder. Eine professionelle Mitverantwortung ist erst dann legitim, wenn die sog. Selbstheilungskräfte eines Menschen zu schwach sind.

Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verstehe ich im Sinne eines synergetischen Handelns bei jeweils professioneller Eigenständigkeit

Zwischen Arzt und Heilpädagoge gibt es Gemeinsamkeiten und strukturelle und berufsbedingte Unterschiede. Zunächst kurz zu den Gemeinsamkeiten: Wir arbeiten für Menschen, die auf fremde, professionelle Hilfe angewiesen sind. Arzt und Heilpädagoge gehen von einem Menschenbild aus, in dem Für-Sorge ein ethisch-moralisches Kulturgut ist, ja sogar eine unhinterfragte Verpflichtung darstellt. Dieses Menschenbild impliziert ein Wissen um die Existenz von menschlichem Leid und dessen globaler Unaufhebbarkeit. Wir sind weder Schöpfer dieser Welt noch allmächtig. Arzt und Heilpädagoge stützen ihr Handeln auf eine Diagnose (dazu später).

Bei den unterschiedlichen Merkmalen wird es schon schwieriger. Ärzte sorgen für die Gesundung eines Menschen, für die Linderung eines Schmerzes und für die Lebenserhaltung (z.B. bei Dialysepatienten). Die medizinische Handlungsgrundlage basiert meist auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.

Symptombeseitigung wir häufig durch Medikation bezweckt.

Ärztliche Interventionen sind meist kurzzeitig. Freipraktizierende Ärzte werden nach privat-wirtschaftlichen Grundsätzen vergütet. Das bringt oft einen chronischen Zeitmangel mit sich.

Heilpädagogen sorgen (bei Bedarf) mit für die Erziehung behinderter und auffälliger Menschen. Solange Symptome bleiben (z.B. auch bei sog. Therapieresiste4nz) geht es um komplexe Lebenshilfe bzw. um „Daseinsgestaltung“ (Kobi).

Eine längerfristige Begleitung entspricht der heilpädagogischen Arbeit mehr als eine kurzfristige Krisenintervention. Es ist kaum möglich, heilpädagogisches Handeln allein mit rational-analytischen Kriterien zu messen bzw. zu definieren. Vielmehr haben Heilpädagogen eine geisteswissenschaftliche Grundlage und methodisch einen phänomenologischen Ansatz, der sich, wie schon gesagt, auf die konkrete Lebensführung bezieht. Bei bestimmten heilpädagogischen Aufgaben (z.B. Diagnose, Förderung, Heilpädagogische Übungsbehandlung) werden naturwissen­schaftliche Erkenntnisse miteinbezogen.

Auch zählen zum heilpädagogischen Handeln so wichtige Dinge wie Trösten, Ermutigen, Beistehen, Zutrauen usw. Diese einfachen mitmenschlichen Hilfen sind auch vor oder nach operativen Eingriffen gefragt. Ein heilpädagogischer „Dauerauftrag“ ist ferner, Einsicht in die jeweiligen Lebenszusammenhänge zu ermöglichen, das bedeutet: Thematisierung von Sinnfragen angesichts schwer begreifbarer Schicksale. Schließlich arbeiten Heilpädagogen meist im Angestelltenverhältnis, d.h. sie werden nicht nach Einzelfällen vergütet. Das wiederum wirkt sich aus auf die jeweilige Zeitintensität der Arbeit.

Die strukturellen Unterschiede zwischen ärztlichem und heilpädagogischem Handeln und die verschiedenen Arbeitsbereiche müssen wir als Voraussetzung für die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit beachten. Die therapeutische Effektivität hat für den Arzt viel mehr Bedeutung als für den Heilpädagogen. Heilpädagogische Erfolge sind in der Regel kaum zu dokumentieren. Während der Patient „Beschwerdefreiheit“ meldet, ist von der heilpädagogischen Klientel nicht zu erwarten, dass sie gewisse Erfolgsmeldungen kundgibt, wie etwa: Ab heute bin ich erzogen, ich brauche keine Heilpädagogik mehr. Oder: Diese Heilpädagogische Übungsbehandlung hat’s mir echt gebracht!

Während Ärzte nach organischen Ursachen suchen, befassen sich Heilpädagogen mit den lebenspraktischen Auswirkungen jener Ursachen. Wie schafft es eigentlich dieser Mensch tagtäglich zurecht zu kommen?

Um die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zwischen Arzt und Heilpädagoge konkreter zu fassen, müssen wir gedanklich noch den ambulanten und den stationären/klinischen Bereich voneinander abgrenzen. Beide Berufsgruppen können sowohl in dem einen wie in dem anderen Bereich intern oder extern zusammenarbeiten

- Soweit die Rahmenbedingungen für eine Zusammenarbeit. –

Nun ein Beispiel:

Burkhard leidet unter sog. Hautaffektionen. Seine Eltern gehen mit ihm zum Dermatologen. Dieser diagnostiziert Neurodermitis und verschriebt eine Fettsalbe. Die Schule schickt Burkhard zu uns in die Erziehungsberatungsstelle, weil er derart unruhig ist, dass er ab der 4. Stunde in der Klasse nicht mehr tragbar ist. Nach einer Betreuungszeit bei uns wird Burkhard auf Initiative der Schule zu einer dreimonatigen stationären Beobachtung in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie geschickt. Dort wird Burkhard gründlich untersucht (neurologisch, psychologisch, heilpädagogisch). Der Zusammenhang zwischen Haut und Unruhe bleibt in dem umfangreichen Arztbericht unerwähnt. Die ärztliche Diagnose lautet: „Neurotische Fehlentwicklung in Form von unruhigem, ungesteuertem Verhalten, zusätzlich Legasthenie, teilweise milieuaktiv bedingt und bei nicht ganz auszuschließender Hirnfunktionsstörung.“

Dieses kurze Beispiel soll die beteiligten „Helfer-Einrichtungen“ aufzeigen und uns zu der Frage führen, ob eine solche Diagnose für die Weiterbehandlung brauchbar ist.

Hautaffektionen sind ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Ein solch organisches Leiden hat, wie bekannt, intrapsychische und soziale Ursachen bzw. Auswirkungen. In vielen Fällen bleiben die Symptome über Jahre, weil eine eindeutig zuverlässige Therapie fehlt. Zwar soll eine spezifische Ernährungsweise helfen, diese erfordert aber eine disziplinierte Einhaltung des Ernährungsplans.

Allergien mit verschiedener Symptomatik nehmen seit Jahren zu. Ätiologische Hypothesen gibt es auch reichlich- faktisch müssen wir uns Gedanken machen, wie wir diesem Personenkreis helfen können. Aus heilpädagogischer Sicht interessieren uns dabei besonders jene schwache Menschen, die die strengen (z.B. diätischen) Heilungsbemühungen nicht durchzuhalten vermögen.

Interessant ist mir die Frage, was in einem Therapeut wohl vorgeht, dessen Patient sich nicht an die therapeutische Verordnung hält. Zwar ist dieses Problem altbekannt (z.B. bei der Behandlung depressiver Patienten), aber es führt uns zu der Überlegung, ab wann ein Patient aus therapeutischer Sicht „abgeschrieben“ wird oder welche Lebenshilfe wir Menschen geben können, die an irgendeinem irreversiblen Syndrom leiden.

Nach meiner Beobachtung sind viele therapeutische Erwartungen an einen Klienten oder Patienten zwar sachlich-fachlich richtig oder sogar logisch, und sie wären sicher auch hilfreich, wenn sie denn nur erfüllt würden ...

Ein weiteres Thema hinsichtlich einer Zusammenarbeit zwischen Arzt und Heilpädagoge ist das Thema unserer Fachsprache.

Während Pädagogen in der Regel alltagssprachlich verständlich reden, kennt Medizin ein weitgehend nur fachintern bekanntes Vokabular. Um bei dem Beispiel der „Hautaffektionen“ zu bleiben, so möchte ich Sie einmal bitten, folgende Begriffe zu übersetzen: Neurodermitis, endogenes Ekzem, atopische Dermatitis. Oder nehmen wir einmal das Beispiel der MCD, der Minimalen Cerebralen Dysfunktion bzw. des Psychoorganischen Syndroms (POS). Seit vielen Jahren werden Auffälligkeiten im Leistungsbereich und im Bereich des emotional-sozialen Verhaltens, z.B. Hyperaktivität, mit einer frühkindlich erworbenen Hirnfunktionsstörung zu erklären versucht, z.B. Sauerstoffmangel während der Geburt, durch nachgeburtliche Infektionen oder durch Rhesuskompatibilität.

Die Begriffe MCD/POS selbst sagen eigentlich nicht über die vermutete Hirnstörung aus, sondern deuten auf eine „psychopathologische Erklärungsmonade“, der in dieser Reduktion entsprechend einer Mannheimer Langzeitstudie inzwischen „das Grab geschaufelt worden sein dürfte“. (2)

In der von Kisker u.a. herausgegebenen „Einführung in die Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie“ (6.Aufl. 1987) wird sprachlich Folgendes unterschieden: der ärztliche Dienst spricht vom „oligophrenen Syndrom“, der soziale Dienst spricht von „geistiger Behinderung“ (S.248).

Die Bemühungen der WHO seit dem 2. Weltkrieg, ein weltweit einheitliches Klassifikationssystem zu schaffen, sind, wie bekannt, nicht unumstritten. Letztlich steckt der Wunsche hinter diesem Versuch, Sprache zu finden für die unendlich vielen Ausprägungen menschlichen Leidens.

Die phänomenale Bedeutung eines Symptoms geht durch ein zwangsläufig reduktionistisches Klassifikationssystem allzu leicht in Vergessenheit. Der „Neuropath“, der „Hyperaktive“, der „Oligophrene“, der „Neurodermitiker“ – hinter jedem Begriff verbirgt sich ein ganzer Mensch; Menschen, die um ihren ureigenen Lebenswert ringen. Sprache braucht hier viel mehr Raum. Bemühen wir uns doch um eine reiche Sprache: deskriptiv und bildhaft, mitfühlend und verstehend. Nichts zwingt uns zu einer sprachlichen Verkürzung. Sprachräume brauchen Zeiträume, und wer Menschen nicht nur peripher begegnen möchte, braucht Muße und Geduld.

In unserer Erziehungsberatungsstelle Heilpädagogische Ambulanz berichten Eltern (und Lehrer) oft von Störungen, den Auffälligkeiten und Unartigkeiten ihrer Kinder. Und wenn wir dann fragen nach der inneren Befindlichkeit des Kindes, ob es wohl glücklich ist, ob es träumt, Ängste hat, wie das Kind auf Zärtlichkeit reagiert usf. – dann sind die Befragten nicht selten irritiert und: sprachlos! Die Beantwortung dieser Fragen fällt ihnen schwer. Durch unsere Fragen verleiten wir die Eltern, ihren Blick von den Fehlern abzuwenden und sich voll und ganz dem Fehlenden hinzuwenden. Wäre dieser berühmte Appell von Paul Moor: „Nicht gegen den Fehler, sondern für das Fehlende“, nicht ein idealer Grundsatz für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit?!

Ich komme zu einem weiteren Thema, das mir für eine Kooperation wichtig ist; es geht um die Diagnose.

Diagnostische Verfahren und Erkenntnisse leiten und begründen professionelles Handeln. Im Folgenden möchte ich Überlegungen einer heilpädagogischen Diagnose anstellen und dann einige Erwartungen an eine medizinische Diagnostik beschreiben. Al dies sind nur Beispiele.

1) In der von Viktor E. Frankl begründeten Logotherapie nimmt die Existenzanalyse (4) einen zentralen Platz ein. Damit ist weit mehr als mit dem Begriff „Anamnese“ gemeint. In einer Existenzanalyse werden nicht Lebensdaten gesammelt, geordnet und ausgewertet, sondern es werden biographisch relevante Lebensthemen erörtert, wie z.B. Sinn- und Wertfragen oder sog. Sinnfindungsbarrieren. Was ist mir individuell gegeben und was ist gerade mir aufgegeben (Moor)? Bei diesen existentiellen Fragen setzen wir voraus, dass jeder Mensch einen „Willen zum Sinn“ (Frankl) v3erspürt und nach der Bedeutung gerade seiner Existenz sucht. Versteht man diesen Vorgang als geistiges Phänomen, als jedem Menschen ureigen innewohnend, so kann Geist weder krank noch behindert sein. Zwar können die kognitiven Prozesse, im Sinne von Hirnfunktionen, gestört sein und ebenso die kognitiven Leistungen wie Reflexion, Selbst-Distanz, Selbst-Erkenntnis usw. – der Wille zum Da-Sein aber ist ursprünglich da; er äußert sich in dem elementaren Grundgefühl: Es ist gut, dass ich da bin.

Alle weiteren Diagnoseverfahren bauen quasi auf jenen zentralen Lebensfragen auf: wodurch ist der Mensch blockiert, behindert oder fehlgeleitet, seiner Bestimmung nachzufolgen? Was fehlt ihm denn zur Erfüllung seiner spezifischen Lebensaufgabe? Wir fragen, wir thematisieren, d.h. wir locken zum Dialog, zur Auseinandersetzung mit dem Sein, wir suchen nach Antworten, die zur Verantwortung führen. Wir beobachten, beschreiben, interpretieren. Dabei sind wir uns einer Vorläufigkeit bewusst, wir suchen ja keine Endlösung, sondern Lebenswege.

Wir sollten uns ab und zu fragen, wozu wir diagnostizieren, wozu wir etwas wissen wollen. Warum eigentlich wollen wir wissen, ob ein Kind Farben unterscheiden kann, ob es altersgemäß entwickelt ist, ob es über einen Baumstamm balancieren kann usw. Es geht uns doch sicherlich nicht allein um die sog. Feststellung der Standard-Abweichung?!

Meine Erwartungen als Heilpädagoge an eine medizinische Diagnostik sind sehr konkret. Allerdings brauchten wir eine Art Raster, um überhaupt zu wissen, wonach wir fragen könnten und sollten. Natürlich: wenn ein Kind häufig hinfällt oder sogar leicht krampft, empfehlen wir, ein EEG schreiben zu lassen. In Bielefeld arbeiten wir sehr gut mir der Kinderklinik der Anstalt Bethel zusammen. Dort wird im stationären Bereich u.a. ein tragbares Langzeit - EEG-Gerät verwendet (im Fachjargon „Oxford - EEG“ genannt).

Eine Röntgenaufnahme der Handwurzel dient zur Feststellung, wie weit die Knochenkerne entwickelt sind. Beide Verfahren: die Aufzeichnung der Hirnaktionsströme und die radiologische Untersuchung der Handwurzel lassen Rückschlüsse auf die entsprechende biologische Reife des Probanden zu.

Genau an solchen Informationen sind wir Heilpädagogen interessiert. Organische Befund können wir dann berücksichtigen und „übersetzen“ im Gespräch mit den sog. Bezugspersonen des Kindes. Nicht selten sind für uns solche Befunde eine Argumentationshilfe in dem Bemühen, mehr Rücksicht dem Kind gegenüber zu üben. Oder wir versuchen, dass Lehrer und Eltern endlich von aussichtslosen Überforderungen des Kindes ablassen. Auch hier zählen wir zu unserer Aufgabe, einen angemessenen Umgang hinsichtlich Fordern und Gewährenlassen zu finden.

Ich möchte hier nicht näher auf die Auswirkungen einer humangenetischen Diagnostik eingehen. Nur soviel: wir können die Entwicklungen in diesem Bereich nicht aufhalten. Die Entscheidungslast, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen, bringt manche Eltern in erhebliche Bedrängnis. Ich selbst bin ein überzeugter Abtreibungsgegner. Aber ich denke, dass wir – Ärzte und Heilpädagogen – noch viel tun müssen, um diesen Eltern konkrete Hilfen aufzuzeigen und anzubieten. Gerade in diesem Bereich werden Eltern mit voller Wucht vor Sinnfragen gestellt. Ferner müssen sie sich schnell entscheiden, und jede ihrer Entscheidungsmöglichkeit hat langwirkende Folgen. Unsere Mitverantwortung ist hier deshalb verlangt, weil wir uns eher und gründlicher vorbereiten können auf diese Probleme, als Eltern, die völlig unverhofft in die Entscheidungskrise kommen.

Ich möchte noch auf ein Diagnoseverfahren eingehen, das für unseren Bereich vielleicht in Zukunft interessant wird. Es geht um einen Diagnoseapparat, der bislang in Deutschland nur an vier Orten zu finden ist. Mit einem „Positronen-Emissions - Tomograph“ können physiologische und biochemische Funktionen sichtbar gemacht werden. Hier einige Beispiele, die interessant sein dürften:

-      Farbige Monitorbilder zeigen den Glucoseverbrauch im Gehirn. Er gestattet Rückschlüsse auf die Aktivität des Gehirns – ob es etwa in der Lage ist, Worte zu erkennen, Gedanken zu formen, Musik zu hören oder einen Willen zu haben.

-     Die Durchblutung und der Sauerstoffverbrauch in bestimmten Körperregionen und Organen (Herz oder Gehirn) ist sichtbar zu machen.

-     Ebenso bestimmte Reaktionen von Enzymen (Biokatalysatoren) im Gehirn. Dadurch lassen sich Psychosen, manisch-depressive Erkrankungen, die fokale Epilepsie usw. immer besser diagnostizieren. (3)

Die Datenauswertung der Positronen – Emissions - Tomographie erfordert eine enge Zusammenarbeit mit Physikern, Radiochemikern, Biochemikern, EDV-Experten und Medizinern. Uns Heilpädagogen kommt in Zukunft mehr noch als heute eine Transfer-Funktion zu. D.h. wir stehen vor der Frage, wie denn die ganzen Daten und Informationen zu übertragen sind in die Lebens- bzw. Alltagswelt der diagnostizierten Menschen. Offensichtlich nehmen die diagnostischen Erkenntnismengen unaufhörlich zu: wir wissen immer mehr, wovon’s uns schlecht wird (frei nach Tucholsky) – und während uns unsere Datenzugänge und Datenmengen faszinieren, bleibt die qualitative Frage ungelöst: wie denn damit zu leben ist.

Ich fasse zusammen:

1)    In der Geschichte der Medizin und der Pädagogik ist eine unübersehbare Spezialisierung festzustellen. Die Erinnerung, dass der Mensch eine Einheit von Körper, Seele und Geist ist, führt zu der Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Daraus folgen für Laien und Fachleute sachgerechte Orientierungsprobleme. Ziel ist nicht ein diffuses ganzheitliches, sondern synergetisches Handeln.

2)    Während Mediziner eher nach naturwissenschaftlichen Erkenntnissen handeln, geht es Heilpädagogen eher um eine komplexe Lebensgestaltung für jene Menschen, deren Selbstheilungskräfte zu schwach sind. Hierbei wird die Sinnsuche angesichts schwerer Schicksale zum Leitthema.

3)    Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit wird durch unterschiedliche Sprach-Gebäude erschwert. Das „Phänomen LEBEN“ lässt sich nicht in Klassifikationssystemen eingrenzen. Komplexe Lebensschicksale brauchen Sprach-Räume, in denen ein tieferes Verstehen erst Platz gewinnt (Beispiele bzw. unvollständig definierte Begriffe waren genannt: Neurodermitis, MCD/POS, oligophrenes Syndrom).

4)    Professionelles Handeln setzt eine jeweilige Diagnose voraus. Die Adaption der Frankl’schen Existenzanalyse auf die Heilpädagogik ist eine Möglichkeit, be-hindertes Leben zu verstehen und nach ungeahnten Potentialen zu suchen.

     Als Heilpädagoge wäre mir ein Raster medizinischer Diagnosemöglichkeiten hilfreich. Als Beispiele mir bekannter Diagnoseverfahren nannte ich das „Oxford - EEG“ und die Handwurzeluntersuchung.

5)    Neuere Diagnoseverfahren, wie z.B. die Positronen – Emissions - Tomographie versprechen detaillierte Informationen über biochemische Funktionen in unserem Organismus. Heilpädagogen kommt zukünftig mehr noch als heute eine „Übersetzer“ – Aufgabe zu.

Mir bleibt folgende Schlussfrage: Nehmen wir mal an, wir wüssten alles – reichte das schon zum Leben?

Vortrag am 09.02.90  beim 1. Heilpädagogischen Symposium des Berufsverbandes der Heilpädagogen (Heilpädagogik und Medizin) in Aschau/Inn: Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Heilpädagogen und Ärzten?


   
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