Berufsethische Implikationen für Heilpädagogen


Heilpädagogische Diagnostik  - berufsethische Implikationen  -
Dr. phil. Dieter Lotz

Heilpädagogisches Handeln bedarf einer Begründung bzw. eines Auftrages, kurz: einer Indikation (= Veranlassung). Heilpädagogik ist kein Pauschalangebot, sondern eine auf den Einzelfall bezogene Maßnahme im Schnittpunkt von Pädagogik und Therapie. Ein wesentliches Ziel von Heilpädagogik ist die soziale Integration, die Teilhabe des Einzelnen in der Gemeinschaft.

Heilpädagogisches Handeln setzt Diagnostik voraus und wird von Diagnostik begleitet. Diagnostik bedeutet Erkennen. Wer diagnostiziert, will Kenntnisse über einen anderen Menschen gewinnen. Durch diese Kenntnisse erhofft sich der (heilpädagogische) Praktiker, sein Handeln angemessen, zielgerichtetet und bedürfnisgerecht planen zu können. Der diagnostische Zweck ist, einem bestimmten Menschen zu helfen, z.B. besser in seinem Leben zurecht zu kommen. Die Grundlage dafür bieten die diagnostischen Ergebnisse bzw. Befunde.

Zur Heilpädagogischen Diagnostik gehört zuallererst die Beobachtung, oder genauer: die Verhaltensbeobachtung. Verhalten ist beobachtbar und dokumentierbar, z.B. durch Beschreibungen oder Videoaufzeichnungen. Die entsprechenden Ergebnisse bedürfen der Interpretation. Die Interpretation ist eine Form der Hypothesenbildung. Daher sprechen wir hier nicht von Gewißheiten, sondern von Vermutungen. Diese wiederum bedürfen der kritischen Überprüfung und der Bereitschaft des Diagnostikers zur Korrektur seiner Ergebnisse.

Die Anwendung von Testverfahren ist nur dann möglich, wenn der Proband bereits jene Fähigkeiten beherrscht, die das jeweilige Testverfahren von seinen Grundvoraussetzungen her verlangt. Z.B. kann die Reproduktion einer Figur nur dann erwartet werden, wenn der Proband auch einen Stift halten und führen kann. Eine Frage kann nur dann beantwortet werden, wenn der Proband sie akustisch und von seinem Sinn her versteht.

Der Diagnostiker muß die jeweilige Testtheorie kennen. Was wird unter Intelligenz, unter visueller Wahrnehmung (z.B. nach Frostig), unter Koordination (nach Kiphard) usf. verstanden?

Die jeweiligen Testergebnisse sind der Versuch, in Maß und Zahl und im Vergleich mit der sog. Eichpopulation einen Befund darzustellen. Ähnlich wie bei der Verhaltensbeschreibung, müssen auch die Testergebnisse interpretiert werden. Sind sie auffällig, so spricht dafür, eine entsprechende Förderung einzuleiten.

Testergebnisse können vorangegangene Beobachtungen bestätigen, in Frage stellen oder ihr neue Aspekte hinzufügen.

Beobachtungen und Tests können Verstehen, Erkennen und Erklären in differenzierterer Weise als mit bloßem Augenschein begründen. Handlungsrichtungen können spezifiziert werden.

Beobachtungs- und Testergebnisse sollten mit anderen FachkollegInnen ausgetauscht und auf die Person des Probanden bezogen interpretiert werden.

Sie sollten ferner auch dem Probanden und seinen unmittelbaren Angehörigen (z.B. Eltern) in verständlicher und nachvollziehbarer Weise erklärt werden. Dabei reicht die bloße Mitteilung des Ergebnisses nicht aus. Gerade der heilpädagogische Diagnostiker sollte erklären, wozu er den Test durchführen will, oder durchgeführt hat, und welche konkreten heilpädagogischen Konsequenzen aus dem Ergebnis folgen werden. Diagnostik ist keine Geheimwissenschaft; sie verlangt Transparenz, ja sogar Rechenschaft.

Dazu einige Merksätze (nach Klenner):

§         Dem Vertrauen eines Probanden, uns als Testleiter gegenüber, begegnen wir mit Respekt.

§         Wir beanspruchen einen Teil seiner Lebenszeit.

§         Wir konfrontieren ihn mit sich selbst, seinem Problem, seinen Grenzen, seiner enttäuschten Hoffnung, vielleicht auch mit seiner Schuld.

§         Wir stoßen Prozesse des Denkens, Fühlens oder auch des Sich-Änderns an, die noch weiterwirken, wenn wir nicht mehr bei ihm sind.

§         Er geht von uns davon als ein anderer als der, dem wir am Anfang begegneten.

§         Wir sind zu Mitwissern seines Schicksals geworden, und können fortan nicht mehr so tun, als ob wir davon nichts wüßten.

§         Verschwiegenheit im Sinne des § 203 StGB ist selbstverständlich.

  

Wieso Heilpädagogische Diagnostik?

Diagnostik sollte zum selbstverständlichen, professionellen Tätigkeitsmerkmal von HeilpädagogInnen gehören. Wenn heilpädagogisches Handeln einer besonderen Indikation bedarf, dann bedarf es auch einer Diagnostik unter heilpädagogischen Gesichtspunkten. Sie ist orientiert an heilpädagogischen Zielgruppen, die meist ein besonderes Verstehen, einen individuellen Umgang und ein bestimmtes Augenmerk erfordern.

Die meisten Testverfahren stammen aus psychologischen Untersuchungen. Sie müssen im Hinblick auf Einleitung, Durchführung und Interpretation der heilpädagogisch bedürftigen Klientel angepasst werden.

 Ein gewissenhafter und verantwortungsbewußter Umgang mit diagnostischen Verfahren und ihrer Auswertung ist selbstverständlich.


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